Christian Hartung - Pfarrer und Schriftsteller
Christian Hartung: "Orgelnachspiel" Ein Kirchenkrimi Neukirchener Aussaat Verlag 2014 ISBN: 978-3-7615-6096-9
Leseprobe:
Ich erwiderte den Blick des Christus im Chorfenster. Seine ganze Figur hatte etwas Starres, wie er da in all seinem bunten Glas stand, von den zufälligen Sonnenfetzen des Morgens durchleuchtet. Starr und zugleich auch beinahe ergeben. Die Hände, die wohl segnen sollten, schienen mir ebenso in einer fast hilflosen Geste erhoben, die offenen Handflächen nach oben: Was soll ich tun? Sag mir doch, was soll ich tun? Das konnte ich ihm nicht sagen. Zudem störte mich sein Heiligenschein. Aber ich wies ihn auf die Sterne hin, die darüber tanzten. Er brauchte sie eigentlich nur aufzufangen. Er zwinkerte mir zu und ich verstand: Er jonglierte ja längst mit ihnen! Fasziniert schaute ich ihm dabei zu. Einer, der mit Sternen jongliert. Warum hatte ich das nicht gleich bemerkt? So wandte ich mich wieder seinen Augen zu. Es kommt darauf an, dass du fest und gerade stehst, erklärte er mir. Egal wo sie dich hinstellen. Von mir aus auch in so ein Glasfenster. Fest und gerade stehen musst du. Dann kannst du auch mit den Sternen jonglieren. Ich nickte unmerklich. Ich wollte es versuchen. Erst beim nächsten Bibelstück horchte ich wieder auf. Darin hieß es: "So hat er, obwohl er Gottes Sohn war, doch an dem, was er litt, Gehorsam gelernt." Ich schaute den Christus im Chorfenster an und fragte ihn: Stimmt das? Fest und gerade und sehr aufrecht stand er in seinem bunten Glas und jonglierte mit den Sternen. Ich merkte zu spät, dass alle aufstanden. Das Glaubensbekenntnis; ich hatte es natürlich als Konfirmand gelernt und sogar ganz gut behalten – Auswendiglernen war mir noch nie schwer gefallen. "… seinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn, empfangen durch den Heiligen Geist …" Fest und gerade stehen. Ich versuchte es. Zeigst du mir dann, wie man mit den Sternen jongliert? Er nickte. Ich hätte gerne schon einmal wie er die Hände dazu erhoben, aber das wäre hier vielleicht unpassend aufgefallen. "… hinabgestiegen in das Reich des Todes …" Davon erzählte das bunte Glas nicht direkt. Aber ich wusste, dass es dazugehörte. Er hatte an dem, was er litt, Gehorsam gelernt – war es nicht so? Das Wort "Gehorsam" machte mir Schwierigkeiten. Während die Worte des Glaubensbekenntnisses über meine Lippen gingen, ohne dass ich auf sie achtete, warnte ich ihn: Pass auf, dass du nicht den Falschen gehorchst! Er lächelte: Ich? Bestimmt nicht! Und plötzlich merkte ich, dass er etwas von Leo hatte. Diese starken, entschlossenen Augen, der ruhige, selbstbewusste Mund: Leo Bronski. Und stand nicht auch er mitten in einem Gitter? Es löste sich auf in buntes Glas. "… von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten." Gebannt starrte ich in das Glasfenster und vergaß, weiterzusprechen. Im Grunde war ja auch alles gesagt. Es würde jemand richten. Alle. Die Lebenden und die Toten. Er, der mit den Sternen jonglierte, notfalls auch mitten in der Kemna. Das verstand ich endlich. Und wenn Gehorsam hieß, unbeirrt auf diesem Weg zu bleiben, dann wollte ich das versuchen. Zumindest versuchen. Vom Rest des Gottesdienstes bekam ich nicht mehr viel mit. Leider auch nicht von Heines Predigt. Es ging um Jesus, den die Hohenpriester und Pharisäer töten lassen wollten – denn es sei besser, ein Mensch sterbe für das Volk, als dass das ganze Volk verderbe. Ich weiß leider nicht mehr, was Heine dazu sagte. Ich kämpfte mit den Tränen und fragte den jonglierenden Christus, der es doch wissen musste und der eben wie mein Großvater ausgesehen hatte: Wofür ist Leo gestorben? Etwa für das Volk? "Von dem Tage an war es für sie beschlossen, dass sie ihn töteten." Ja, genau so war es gewesen. Der bunte Glaschristus widersprach mir nicht. Ein paar beschlossen, dass ein anderer zu verschwinden habe. Im Namen des Volkes, das dazu nicht weiter befragt wurde, aber wohl in der Mehrheit bereitwillig mitmachte oder einfach wegschaute und später von nichts wusste. Und was blieb, waren Gehorsam und buntes Glas? Ja, nickte er und seine Hände mit den nach oben geöffneten Flächen wirkten plötzlich wieder etwas hilflos. Ja, das bleibt. Gehorsam gegen deinen Weg, wenn das nun einmal dein Weg ist. Was glaubst du denn, hat Leo getan? Verraten hat er jedenfalls nichts und niemanden. Was dann noch übrigbleibt, ist leider oft nur das Kreuz. Wenn es erst einmal so weit ist, dann bist du allein. Dann hast du gar nichts mehr. Und niemanden. Vielleicht ein Mädchen, das irgendwo nach dir weint. Und du weinst nach ihr – aber ihr könnt nicht mehr zusammenkommen. Ich habe die Welt nicht so gemacht, aber so ist sie nun einmal. Wütend erwiderte ich seinen Blick. Du hast die Welt nicht so gemacht! Und wer dann, bitte schön? Warum ist sie so? Und komm mir jetzt bitte nicht wieder mit deinem blöden Gehorsam! Es ist alles falsch! Wenn Menschen erst einmal umeinander weinen müssen und nicht mehr zusammendürfen, dann ist alles falsch! Schweigend jonglierte er eine Weile mit seinen bunten Sternen. Dann sagte er leise: Ja, du hast recht. Es ist alles falsch. Bis auf das, was immer richtig war. Das wird nicht plötzlich falsch. Wenn auch rund um dich alles Lüge ist – es gibt Dinge, die sind keine. Such sie dir raus. Und dann jonglier damit. Du kannst das Unheil dann nicht aufhalten. Aber du weißt, wo es nicht hinkommt. Und das musst du dir bewahren. Die Predigt war zu Ende und ich hatte kaum etwas von ihr mitbekommen. Meine Großmutter begann ganz leise zu spielen. Zwischendurch ließ sie die eigenartige Melodie ihres Eingangsvorspiels anklingen, doch führte sie anders weiter. So improvisierte sie eine Weile und fand dann in den folgenden Choral. Ich behielt die Augen geschlossen. Was sie wohl eben gedacht hatte, während sie so behutsam und suchend auf Heines Predigt geantwortet hatte? Denn eine Antwort war es gewesen – und so wie sie klang, durchaus eine einverstandene. Das würde ich sie nachher fragen. Es wurde gebetet, wir standen noch einmal auf, das Vaterunser kam an die Reihe, das ich ebenfalls noch auswendig konnte, doch ich war nicht bei der Sache. Der Gottesdienst hatte mir bereits so viel zu denken aufgegeben, dass ich damit auf Tage beschäftigt sein würde, ich brauchte nicht noch mehr. Nur vom Orgelspiel meiner Großmutter hatte ich nicht genug und setzte mich wieder hin, während die anderen Gottesdienstbesucher ihre Bänke verließen, sich im Mittelgang trafen, leise oder auch lauter ein paar Worte wechselten und sich langsam Richtung Ausgang bewegten. Mit geschlossenen Augen lauschte ich den Girlanden, die Mendelssohns Musik unter den Fingern meiner Großmutter wob. Ich kannte das Stück nicht. Etwas Schmerzliches und Ängstliches schien mir darin zu liegen. Da wollte vielleicht einer mit den Sternen jonglieren, doch musste sich erst dafür freikämpfen und dann konnte es zu spät sein. Er argumentierte, versuchte im Durcheinander der Stimmen durchzudringen, die ihn dennoch immer wieder fesselten und umwickelten, er blieb jedoch bei seiner Überzeugung, auch gegen die mahnende tiefe Stimme, die ihn immer wieder auf einen bestimmten Weg zu bringen versuchte. Die Stimmen der Orgel und die Stimmen und Schritte der Menschen um mich herum verwoben sich ineinander, wurden gelegentlich schroff und dissonant – nein, das war mehr als Dissonanz: Schreie, rasche, hektische Schritte – verstört öffnete ich die Augen; meine Großmutter spielte unbeirrt weiter – die Ursache der Unruhe war dicht hinter mir: Ich sah gerade noch, wie Herr Schenkendorf zusammensackte. Wie an meinen Platz gebannt starrte ich auf das Menschenknäuel, nahm mit halbem Ohr wahr, dass die Orgel jetzt tatsächlich angefangen hatte zu jonglieren, registrierte es jedoch nicht bewusst, sondern versuchte zu verstehen, was sich vor meinen Augen abspielte. Schenkendorfs Frau, die ihn zu stützen versucht hatte, ging mit ihm zu Boden; einer der älteren Herren, die mir vorhin aufgefallen waren, versuchte den in sich Zusammensinkenden ebenfalls zu halten – ich konnte unter den Hinzustürzenden auch die anderen Herren erkennen, die Schenkendorf beunruhigt zu haben schienen, alle vier waren sie da – nein, waren es nicht nur drei? Oder waren es nur drei gewesen? Vielleicht sah ich in dem Durcheinander auch nicht alle. Ich stand auf, doch viel mehr als eben konnte ich nicht erkennen. Meine Großmutter spielte immer noch, es war wirklich ein langes Stück – nahm sie nichts von dem wahr, was hier unten passierte? Ich trat hinzu, mischte mich unter die kopflosen Menschen und vernahm kurz nacheinander zwei entsetzte Rufe: "Er ist tot!" und: "Er hat ein Messer im Rücken!"
Im März 1983 wird die evangelische Kirche in Haan zum Schauplatz eines Mordes: Der geachtete Rechtsanwalt Arno Schenkendorf wird nach dem Gottesdienst während des Orgelnachspiels erstochen. Schenkendorfs Enkel Stephan hat zuvor die sorgfältig verschwiegene SA-Vergangenheit seines Großvaters aufgedeckt. Gemeinsam mit Felix, dem Enkel der Organistin Elisabeth Breuning, erarbeitet er für den Geschichts-Leistungskurs ein Referat über die Vorgänge in Haan im Januar 1933. Elisabeth Breuning, Tochter eines deutschnationalen Pfarrers, erzählt ihnen von ihrer Liebe zu dem jungen Kommunisten Leo, der im Konzentrationslager Kemna in Wuppertal ermordet wurde. Die beiden Schüler sehen in Schenkendorf den Schuldigen und versuchen, ihn endlich zum Reden zu zwingen. Damit bringen sie sich in große Gefahr.